Freitag, 16. Januar 2009

Spiegelartikel

"Die Psyche wird aufgeschlitzt"
Von Claudia Vüllers
Jeden Tag quälen sich 800.000 Menschen in Deutschland zur Arbeit, weil sie beleidigt, übergangen und geschnitten werden. Dass Psychoterror am Arbeitsplatz zum Alltag in deutschen Büros gehört, bestätigt auch eine neue Studie im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
GMS
Mobbing macht krank: Der Schaden für die Wirtschaft ist enorm
"Ich schaffe die Arbeit nicht in der Arbeitszeit, meine Familie leidet unter der Situation. Heute morgen bin ich einfach nach Hause gegangen. Ich konnte nicht mehr". Klagen wie diese zählen zum Alltag in deutschen Büros. Diese Arbeitnehmerin wird gemobbt. Ständig wühlt ihre Kollegin auf ihrem Schreibtisch, lenkt sie absichtlich ab, macht ihr das Leben zur Hölle. Hilfe findet sie nicht im Büro, sondern im Internet. Unter www.mobbing-am-arbeitsplatz.de gibt es ein gut besuchtes Mobbing-Forum, wo sich Betroffene austauschen, sich gegenseitig Mut machen.
"Mobbing wurde bisher oft als Hirngespinst unangepasster Kollegen gesehen", sagt die parlamentarische Staatssekretärin im Arbeitsministerium, Ulrike Mascher, zum Mobbing-Report der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Die Untersuchung, die erste repräsentative in Deutschland, liefere nun Daten für eine sachliche Diskussion.
Mobbing ist kein Randphänomen. Im Gegenteil: Mobbing kann jeden treffen. 2,7 Prozent aller Arbeitnehmer, das sind 800.000 Menschen, leiden unter regelmäßigen Quälereien im Job. Arbeitnehmer unter 25 oder über 50 Jahren sind offenbar besonders gefährdet. Möglicher Grund: Ihre Positionen in der Firma sind noch nicht gefestigt oder - im Falle der Älteren - es wird ihnen nichts mehr zugetraut.
"Die öffentliche Diskussion hat sich zwar gewandelt, aber es gibt immer noch Menschen, die das Problem Mobbing nicht ernst nehmen", erklärt Gottfried Richenhagen, Geschäftsführer der Gemeinschaftsinitiative Gesünder Arbeiten, die die MobbingLine Nordrhein-Westfalen betreibt. Die Nachfrage ist enorm. Als die Telefon-Hotline vor rund einem Jahr ins Leben gerufen wurde, meldeten sich pro Woche 5000 Betroffene. "Das hat uns vollkommen überfordert." Mittlerweile hat sich die Situation etwas beruhigt. Trotzdem rufen in den zwölf Beratungsstunden pro Woche einige hundert Menschen an, die mit ihren Problemen am Arbeitsplatz nicht fertig werden.
In der Initiative haben sich Unternehmen, Berufsgenossenschaften, Sozialpartner, Krankenkassen und die Landesregierung zusammen geschlossen. Mit Erfolg, wie sich schnell zeigte: Die Anrufer profitieren von dem eng geknüpften Netzwerk der Initiative, je nach Anlass können sie an Anwälte oder Ärzte weiter vermittelt werden. Wichtig ist vor allem, dass die Betroffenen in einem individuellen Gespräch anonym über ihre Probleme reden können: "Die Hemmschwelle ist niedrig", sagt Richenhagen.
Die Vereinsamung wächst auf der Karriere-Leiter
Großen Zulauf hat auch die Fairness-Stiftung, die Norbert Copray im Mai 2000 gegründet hat. Ihr Angebot richtet sich vornehmlich an Führungskräfte, die mit einer speziellen Art des Mobbings zu kämpfen haben: "Je höher man in der Hierarchie steht, desto größer ist die Vereinsamung", weiß Copray aus langjähriger Erfahrung. Es gibt keinen Chef in einer höheren Position, der Probleme regelt, niemand, an den man sich wenden kann. Der Partner ist immer auch der Konkurrent und irgendwann sei nicht mehr klar, wer Feind und wer Freund sei. Viele kleine Kränkungen summierten sich auf diese Weise zu einem großen Trauma "wie die Sonneneinstrahlung auf der Haut".
In der Stiftung kümmern sich vier feste und über vierzehn freie Mitarbeiter um die Belange der Führungskräfte. Anonym, versteht sich, und finanziert durch Spenden: "Wenn wir eine Rechnung stellen würden, wäre die Anonymität weg", erläutert Copray.
Geklärt werden muss zuerst einmal, ob überhaupt Mobbing vorliegt. Denn nicht jede Hakelei im Büro, nicht jedes böse Wort fällt unter die Definition, die das Bundesarbeitsgericht aufgestellt hat. Danach ist Mobbing "das systematische fortgesetzte, aufeinander aufbauende oder ineinander übergreifende Anfeinden, Schikanieren und Diskriminieren von Arbeitnehmern oder durch Vorgesetzte".
Im Westen wird mehr gemobbt
Das Mobbing-Phänomen ist international. Die in der Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin errechnete Mobbingquote platziert Deutschland im europäischen Mittelfeld. Die Forscher attestieren der Bundesrepublik aber ein deutliches Ost-West-Gefälle: In den neuen Bundesländern werde weniger gemobbt als im Westen. Als Hauptmotive für den Psychoterror gaben die Schikane-Opfer Neid, Konkurrenz und Spannungen mit Vorgesetzten an. "Die wenigsten hatten das Gefühl, dass man sie wegen ihrer schlechten Leistung loswerden wollte - eher im Gegenteil", so Staatssekretärin Mascher. Motive, die offenbar in bestimmten Berufszweigen besonders zum Tragen kommen: Nach Angaben der Forscher müssen Beschäftigte in sozialen Berufen und Verkaufspersonal mit dem größten Mobbing-Risiko leben. Frauen werden wesentlich häufiger als Männer mit Psychoterror im Job konfrontiert.
Die Konsequenzen sind bitter und teuer. Für mehr als 50 Prozent der Betroffenen endet die schlechte Stimmung am Arbeitsplatz mit Kündigung oder Auflösungsverträgen. Über 40 Prozent der Gemobbten wird krank, fast sieben Prozent bleiben auf Dauer arbeitsunfähig oder müssen Frührente beantragen.
Die Arbeitgeber sind gefordert
Den wirtschaftlichen Schaden beziffert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf 15 bis 25 Milliarden Euro jährlich. Die Mobbing-Opfer werden unsicher, fühlen keinen Rückhalt unter den Kollegen und erleben enormen psychosozialen Druck, der auf Dauer krank macht.
DPA
Tatort Büro: Jeder neunte wird in seinem Arbeitsleben gemobbt
Um das zu verhindern, folgern die Autoren der Studie, müsse die Prophylaxe verstärkt werden. Arbeitgeber müssten Diskriminierungen in ihrer Belegschaft unterbinden und dürften sie auf keinen Fall bagatellisieren. Betriebs- und Personalräte hätten die Aufgabe, auch ohne Hinweis der Betroffenen Fälle von Mobbing zu erkennen und Lösungen zu finden. Den Betroffenen steht ein Beschwerderecht zu, sie haben Anspruch auf Unterlassung und können im Falle eines bewiesenen Mobbings Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend machen.
So weit kommt es aber nur selten. Der klassische Fall des neuen Mitarbeiters, der von Anfang an von den Kollegen geschnitten und von seinem Vorgesetzten bei der Aufgabenteilung übergangen wird und der schlussendlich resigniert aufgibt, ist kein Klischee, sondern durchaus Realität, wie auch die Studie des Bundesanstalt für Arbeitschutz und Arbeitsmedizin zeigt.
"Die Psyche wird aufgeschlitzt"
Dabei wird "die Psyche aufgeschlitzt", wie es der Münchner Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht, Thomas Etzel gegenüber der "Frankfurter Rundschau" bewusst drastisch formulierte. Die Mobbing-Opfer würden zu "psychischen Wracks". Viele dieser Betroffenen kommen schließlich zu Josef Schwickerath, dem leitenden Psychologen der Klinik Berus im Saarland. Seit drei Jahren wurden dort bisher 300 Mobbing-Opfer therapiert. "Viele leiden an Depressionen, haben keinen Antrieb mehr. Sie können ihren Alltag und ihre Arbeit nicht mehr bewältigen", erklärt der Diplom-Psychologe gegenüber SPIEGEL ONLINE. In der Mobbing-Gruppe der Klinik kommen sie mit Leidensgenossen zusammen, können endlich mit Verständnis für ihr Problem rechnen.
Die Patienten lernen wieder, Angst und Stress zu bewältigen. Sie lernen auch, sich und ihre Arbeit wieder zu schätzen. Mobbing - ein Problem, das zunimmt, meint Schwickerath. Der Wind auf dem Arbeitsmarkt weht schärfer, die Konkurrenz wird immer größer.
Wer Mobbing-krank ist, sich aber nicht in Behandlung begibt, geht möglicherweise ein großes Risiko ein: Schätzungen zufolge sind 15 Prozent aller Selbstmörder Mobbing-Opfer. Trotz der gravierenden Gefahren schließt die Studie des Ministeriums nicht mit der Forderung nach einem Mobbing-Schutzgesetz, wie es zum Beispiel in Frankreich durchgesetzt wurde. Mobbing sei in Deutschland arbeitsrechtlich verboten und grundsätzlich auch strafbar. "Daher sehe ich keinen Handlungsbedarf für ein spezielles Mobbing-Schutzgesetz", erklärte Staatssekretärin Mascher.
Kritik an der Untersuchung kommt von den Mobbing-Experten Thomas Etzel, Dieter Groeblinghoff, Alfred Fleissner und Thomas Wüppesahl. In einer Kurz-Stellungnahme stellen sie fest, dass der "Mobbing-Report" keine neuen Erkenntnisse bringe und nur bestätige, was schon bekannt sei. Trotzdem begrüßen sie die Untersuchung, sie sei "ein erster Schritt, um zu fundierten Grundlagen zu gelangen."
Genau die sind wichtig für Mobbing-Opfer, die vor allem ernst genommen werden wollen. "Ich bin am Ende, weiß nicht, was ich machen soll", schreibt auch die von ihrer Kollegin geplagte Frau im Mobbing-Forum. Hilflosigkeit, die krank macht.


URL:
• http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,200560,00.html
ZUM THEMA AUF SPIEGEL ONLINE:
• Mobbing: Tod eines geschätzten Mitarbeiters
http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html?id=19966132&top=SPIEGEL
• Nach "Mobbing"-Fall: Schneller Wechsel im hessischen Sozialministerium (21.08.2001)
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,151156,00.html
• Mobbing-Opfer: Mehr Chancen vor Gericht (18.05.2001)
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,134203,00.html
ZUM THEMA IM INTERNET:
• Gemeinschaftsinitiative Gesünder Arbeiten e.V.
http://www.gesuender-arbeiten.de
• www.fairness-stiftung.de
http://www.fairness-stiftung.de/index1.htm
• Klinik Berus
http://www.ahg.de/berus_online
• Mobbing am Arbeitsplatz
http://www.mobbing-am-arbeitsplatz.de
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